Bekannt wurde der 1975 geborene Christian Ulmen als MTV-Moderator. Seit seiner Titelrolle in „Herr Lehmann“ (2003) ist er auch als Schauspieler tätig. Mit Filmen wie „Maria, ihm schmeckt’s nicht“ und „Männerherzen“ stellte er sein Kassenpotenzial unter Beweis, während seine Fernseh- und Internetformate Kritikerlieblinge sind. Im halbdokumentarischen „Jonas“ drückt er derzeit im Kino noch mal die Schulbank.
choices: Herr Ulmen, Sie haben gesagt, dass Sie das Projekt „Jonas“ gemacht haben, um ein unverarbeitetes Schultrauma zu überwinden. Hat es geklappt?
Christian Ulmen: Es hat geklappt. Ich würde allerdings eher von Minitrauma sprechen oder von Alpträumen. Die suchten mich immer mal wieder in unregelmäßigen Abständen heim, und nicht nur mich, sondern eigentlich fast alle Menschen, die ich kenne. Träume, in denen ich an der Tafel etwas vorrechnen musste und damit kläglich gescheitert bin. Oder Alpträume, in denen ich das Abi nicht bestanden habe oder gar nicht erst zugelassen wurde zur Abiprüfung, weil ich so oft geschwänzt hatte. Dass einen das Schulerleben noch einmal in Alpträumen heimsucht, hat mich zu dieser Idee inspiriert. Ich bin eigentlich sehr gerne zur Schule gegangen, weil ich dort jeden Tag meine Kumpels getroffen habe. Und obwohl ich morgens gutgelaunt zur Schule ging, haben die schulischen Drucksysteme offenbar eine solche Wucht, dass einem das nachhaltig im Gehirn kleben bleibt und einen im Erwachsenenalter noch heimsuchen kann. Das fand ich so spannend, dass ich noch einmal zum Quell dieser Träume marschieren und in der Höhle des Löwen Schule mitmachen wollte.
Hatten Sie seitdem wieder Schul-Alpträume?
Nee, ich bin geheilt! Das hat wahrscheinlich wirklich mit „Jonas“ zu tun. Ich glaube, das liegt auch daran, dass für einen Schüler viele Lehrer einfach machtvolle Monster sind. Nicht alle, ich hatte auch einen ganz tollen, begnadeten Klassenlehrer, aber das Gros der Lehrer nimmt man als Schüler als Diktator wahr. Die können mich zwingen, die Hausordnung zwanzigmal abzuschreiben, wenn ich mit dem Fahrrad über den Schulhof gefahren bin, die können mir eine Sechs geben, ich kann sitzen bleiben durch deren Urteil usw. Der Film wirft aber auch einen anderen, hilfreichen Blick auf Lehrer, den man als Schüler niemals kriegt: den Lehrer als Mensch, bei dem manchmal so etwas wie eine Seele aufblitzt. Dass Lehrer auch enttäuscht sein können, wenn ihr Unterricht nicht ankommt. Da erkennt man, dass Lehrer nicht nur diese Macht-Aliens sind, sondern auch Leute, die einen Beruf haben, den sie unter Umständen gern machen, und die anderen etwas beibringen wollen. Wenn diese Lehrerfront ein menschliches Gesicht bekommt, dann hilft das, die Schulzeit von damals zu verarbeiten oder zumindest die Alpträume zu eliminieren.
Was war beim zweiten Mal zur Schule gehen besser als beim ersten Mal, außer, dass man die Lehrer vielleicht anders wahrnimmt?
Als ich Jonas war, habe ich die Lehrer überhaupt nicht anders wahrgenommen! Das war alles genau wie früher. Es roch genauso, die Lehrer sahen genauso aus, machten dieselben komischen Witze, trugen Kleidung aus völlig unbekannten Modeepochen – da war nichts anders! Es war wirklich wie eine Zeitreise zurück. Diese Erkenntnis, dass Lehrer auch Menschen sind, kommt erst, wenn man den Film sieht. Da gibt es so kleine Momente, wenn man in traurige Religionslehrerinnenaugen guckt, nachdem sie gerade gesagt bekommen hat, dass ihr Unterricht für Babys ist – dann bekommt man erst diese Erkenntnis. Der Rest war echt wie früher!
Auch, was das Verhalten der anderen Schüler angeht?
Ich finde schon. Wir hatten ja das große Glück, hier eine Schule zu finden, in der es einen sehr freundschaftlichen Zusammenhang gab. Das war gar nicht intendiert und die Schule wurde auch gar nicht gezielt danach ausgesucht. Da gab es weder Mobbing noch Dissen unter den Schülern, worüber man ansonsten so viel lesen kann. Das gab es aber auch zu meiner Schulzeit nicht. Ich hatte auch das Glück, in einem sehr friedlichen Klassenverband gewesen zu sein. Ich hatte das Gefühl, auch als Jonas ziemlich schnell integriert zu werden. Ich war eben der Neue an der Schule, habe dort aber sehr schnell Anschluss gefunden, wie man so blöd sagt.
Aber das lag doch wohl auch daran, dass es sich um ein musisches Gymnasium in einer ländlichen Gegend gehandelt hatte. Auf einer Schule in Neukölln hätte das doch sicherlich ganz anders ausgesehen …
Es gibt natürlich andere Schulen, es gibt Rütli, es gibt auch Elite-Gymnasien in Berlin-Dahlem, wo alle Überflieger sind – es gibt alles! Aber ich glaube, dass die Schule, die wir in Zeuthen fanden, die Schulzeit von ziemlich vielen Leuten widerspiegelt und sich sehr viele mit so einer Art Schule identifizieren können. Es war bewusst von uns gewählt, eine Schule zu finden, die kein Extrem darstellt, weil wir ganz vielen Leuten die Möglichkeit geben wollten, mit diesem Film noch einmal auf eine Zeitreise zu gehen. Zeuthen war ein wohl situiertes, bürgerliches Umfeld. Diese Schule hätte man genauso gut in Hamburg-Marienthal, Köln-Sülz oder Berlin-Zehlendorf finden können.
Es wurde sicherlich viel improvisiert, weil die anderen Beteiligten nicht genau eingeweiht waren in das, was vorgehen sollte. Ist diese Art des Schauspiels für Sie nach wie vor besonders reizvoll?
Ja, wobei ich sagen muss, dass schon alle eingeweiht waren. Wir haben denen im Vorfeld, auch aus rechtlichen Gründen, gesagt, worauf sie sich da einlassen. Nicht nur, dass sie gefilmt werden, sondern auch, dass Ulmen in einer Maske kommt und eine Rolle spielt. Das ist aber letztlich irrelevant, weil das menschliche Gehirn nicht dazu in der Lage ist, sich permanent einzureden „Der ist nicht echt!“, wenn es eine Figur sieht. Denn du musst irgendwann einfach mit dem leben, was da vor dir sitzt. Deswegen wurde Jonas irgendwann geschluckt und gekauft. Das Wissen darum, dass da eigentlich ein anderer hinter der Maske steckt, ist am ersten Tag relevant und interessant, und in den restlichen sechs Wochen verschwindet das alles im Hintergrund. Dadurch konnte alles so authentisch bleiben. Improvisiert wurde dennoch, denn es war in erster Linie eine Dokumentation über Schulalltag. Die Schüler haben nichts gespielt, die waren alle so, wie sie waren, nämlich Schüler. Und die Lehrer waren einfach Lehrer, und alle haben das gemacht, was sie ohnehin jeden Tag in der Schule machen. Wir haben da einfach nur die Kamera draufgehalten und ihnen einen Jonas an die Seite gestellt, um dem Zuschauer die Möglichkeit zu geben, sich durch die Augen des Sitzenbleibers Jonas die Schulwelt anzuschauen.
Jonas mit seinen 18 Jahren und die Titelrolle in dem demnächst anlaufenden Film „Einer wie Bruno“ sind eher einfach gestrickte Personen. Wieso schlüpfen Sie so gerne in eher simple Rollen?
Ich finde gar nicht, dass es so viele einfach gestrickte Rollen sind. Herr Lehmann ist z.B. kein einfach gestrickter Typ, oder auch ein Alexander von Eich, der ist Nazi, der ist sicherlich sehr klar reaktionär, aber leider voll zurechnungsfähig. Bruno ist wirklich geistig behindert, aber das ist der Jonas natürlich nicht. Die Jonas-Figur ist dadurch entstanden, dass ich irgendwann müde war, zu provozieren. Ich habe sehr viele Charaktere gespielt, die auf ulmen.tv laufen und teilweise aus „Mein neuer Freund“ stammen, die dafür da sind, Leute aus der Reserve zu locken oder zu nerven. Genau das sollte dieses Mal nicht passieren, im Gegenteil. Ich wollte mich dieses Mal in meiner Figur meinem Umfeld komplett unterwerfen. Ich wollte niemanden quälen, sondern gequält werden. Von Lehrern, die verlangen, dass ich Hausaufgaben mache und den Logarithmus lerne. Um zu erreichen, dass wir von einer Figur erzählen, die sich wie ein V-Mann in eine Schulklasse einschleust, damit wir alle als Zuschauer durch die Augen von Jonas diesen Blick auf die Schule erhalten, durfte das keine Figur sein, die auffällig ist, die besonders begabt oder besonders provokant ist. Der musste durchschnittlich sein und auch eher schlecht als recht zurechtkommen, damit wir die Nöte der Schüler besser abbilden konnten.
Unmittelbar nach Ihrem eigenen Abitur haben Sie sich für Theologie eingeschrieben, das dann aber gar nicht studiert. Wie ist es denn dazu gekommen?
Meine Eltern hatten etwas gegen die Vorstellung, dass ich nach dem Abitur erst einmal gar nichts machen würde. Genauer gesagt: Ich wollte direkt danach zum Fernsehen und hatte versucht, über meine Arbeit beim Offenen Kanal diesem Ziel näher zu kommen. Das war meinen Eltern aber immer zu gewagt, da hatten sie Angst, dass ich darüber vergesse, eine Ausbildung zu machen oder etwas „Richtiges“. Um sie zu beruhigen und um für mich gleichzeitig Zeit zu schinden, habe ich mich an der Uni eingeschrieben. Theologie deswegen, weil das Fach keinen NC hatte und ich auch mit meinem Abischnitt sofort studieren konnte. Das hatte mit Interesse oder so gar nichts zu tun, und Gott sei Dank bin ich dann wirklich drei Wochen vor Semesterbeginn zu MTV gekommen.
Sie haben schon die unterschiedlichsten Formate in allen möglichen medialen Formen produziert. Gibt es noch etwas, was Sie reizen würde, medial auszuprobieren?
Nein, ich muss wirklich sagen, ich habe alles schon gemacht! (lacht) Ich möchte gern weiter ulmen.tv ausbauen und das Internet als Verbreitungsplattform wählen. Als Kunstfigur in die Realität zu gehen, habe ich schon so oft gemacht, dass ich im Moment keine weitere Idee mehr habe. Da muss nun erst einmal Zeit verstreichen, bis der Akku wieder voll ist.
Wie wichtig ist Ihnen bei Ihrer Arbeit denn ein breiter Publikumszuspruch, denn hinsichtlich Einschaltquoten war es bei Ihren Formaten ja immer etwas schwierig …
Nach ein paar Kinofilmerlebnissen wie „Männerherzen“ mit 2 Millionen Zuschauern und „Maria, ihm schmeckt’s nicht“, der auch 2 Millionen Zuschauer hatte, kenne ich jetzt auch über diesen Weg den kommerziellen Erfolg beziehungsweise den Zuschauererfolg. Ich finde, ehrlich gesagt, dass der sich nicht so geil anfühlt wie der Erfolg, einen inhaltlich guten Film gemacht zu haben oder eine gute Serie, die geliebt wird. Das ist mir immer noch mehr wert. Der Schmerz, wenn man das Gefühl hat, man hat einen Scheiß-Film gemacht, der ist viel größer als der Schmerz, wenn man zu wenig Zuschauer hatte. Irgendwie ist es bei mir tatsächlich so, dass mich die Zuschauerzahlen nicht so sehr tangieren, wie die Qualität dessen, was ich gemacht habe. Was nicht heißt, dass ich mich nicht auch wahnsinnig über Zuschauer freue. Aber die Freude ist ungleich größer, wenn man richtig glücklich mit seinem Werk ist.
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