Wenn in den letzten Monaten und Jahren das Gespräch auf die Ruhrgebietskultur kam, glich das oft einem einzigen Jammern und Wehklagen. In holprigem Englisch hörte man vom „Drain out“, vom Abgang vieler Aktivisten der Kultur in andere Regionen, von der fehlenden Nachhaltigkeit der RUHR.2010 und von der Ignoranz kommunaler Behörden gegenüber soziokulturellen Zentren. Woanders scheint der Blickwinkel auf die Möglichkeiten der Ruhrgebietskultur jedoch ein gänzlich anderer, viel positiverer zu sein. Es sorgte nämlich für Erstaunen, als Michael Stahl, der Betreiber des Unrock, eines bundesweit bedeutenden Plattenladens/Mailorders für unabhängige, experimentelle und improvisierte Musik, kürzlich via Zeitungsinterview mitteilte, aus seiner Krefelder Heimat ausgerechnet nach Essen ziehen zu wollen.
Selbst die größten Befürworter des Ruhrgebiets konnten sich die Frage nicht verkneifen: Wieso Essen? Umso größer ist das Erstaunen darüber, dass Stahl für die Stadt mehr als nur romantische Argumente gefunden hat, auch und gerade für die von ihm angesprochenen musikalischen Nischen: „Das Ruhrgebiet mit Essen als geographischer Mitte und großer Stadt erscheint mir derzeit wie ein Riese im Dornröschenschlaf, was musikalische Avantgarde und Underground-Strukturen angeht. Ein großes kulturelles Angebot, aber kaum Subkultur, die oft der Nährboden und die Wurzel vieler Entwicklungen ist. Ich hoffe, etwas zu bewegen, um bald nicht nur Platten, sondern auch Konzerte anbieten zu können.“
So viel Optimismus überrascht alle. Ist das Ruhrgebiet schon längst die Boomtown, die alle sein wollten, trotz der zurückliegenden Auseinandersetzungen um Djäzz und Hundertmeister in Duisburg, FZW in Dortmund und JZE Papestraße in Essen? Trotz der Schließungen von Plattenläden wie Garageland und Last Chance wegen Unrentabilität? Es liegt wohl eher an der gesunden und vorbildlichen Struktur des Unrock selbst, dass sich der neue Standort tatsächlich als vorteilhaft erweisen könnte. Schon lange schielt Stahl mit seinen Angeboten nicht auf Trends, sondern nutzt ein Phänomen für sich, das eigentlich ein Nagel im Sarg der Musikindustrie ist: das Internet. Mit einem Gespür für musikalische Substanz und Innovation und schnelle Kommunikationswege hat er seinen Laden zu einem der wichtigsten Vertriebswege für die Genres gemacht, die er als „Underground meets Avantgarde, Improvisor meets Experiment, Noise, Unrock, Vinyl–Importe & Kleinstauflagen. Obskures und Exotisches auf gutem Niveau“ bezeichnet. Die in Krefeld nicht ausreichende Zentralität und ein gewisser Anteil an regionaler Stammkundschaft könnte Essen trotz aller Vorbehalte durchaus bieten. Stahl selbst wirkt jedenfalls so, als hätte er die Machbarkeit seiner Ideen sorgsam geprüft. Zusammen mit einer in Essen lebenden US-Regisseurin will er Spoken Word-Künstlern ein Forum bieten, außerdem sollen auch Konzerte der Musiker aus seinem Netzwerk verstärkt hier stattfinden. All das wird für das Essener Kulturleben eine Bereicherung darstellen, von der die ganze Region profitieren wird.
weitere Informationen: www.unrock.de
Konzerte im Südbahnhof Krefeld in Planung I www.suedbahnhof-krefeld.de
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