Man kann die Platten drehen und wenden, wie man will, es hilft nichts: Deutsch-Rap hat seine Beats nicht im Griff. Nach gut 25 Jahren Hip-Hop in Deutschland gibt es zwar mittlerweile Rapper für jeden Geschmack: antideutsche Jungsknutscher und homophobe Großmäuler, Gangster mit Aufstiegsambitionen zum Mittelständler und diejenigen, die lieber ihr Erbe für Platten, Equipment und Sneakers auf den Kopf hauen. Aber ein wichtiger Mensch im deutschen Hip-Hop erhält selten einen Platz im Rampenlicht: der Beatmaker.
Anders in den USA: Dort ist den meisten Menschen klar, dass hinter den besten Raps auch immer irgendeine Person mit Skills an Mischpult und Sampler steht. Das Smithsonian Museum kaufte vor ein paar Monaten sogar den MPC-Sampler und den Moog-Synthesizer des stilprägenden Detroiter Produzenten J Dilla für seine Sammlung. Und wer weiß, welcher Produzent für die tollen Beats des letzten Haftbefehl-Albums verantwortlich ist? Eben.
Vielleicht ist es einfach eine Frage der Popgeschichte. Wenn man die für Hip-Hop so wichtige afro-amerikanische Musikgeschichte nicht per Radio, Grabbelkiste und dem Plattenschrank der Eltern an jeder Ecke nahegebracht bekommt, können die Samples noch so geschichtsbewusst ausgewählt sein – die breite Resonanz bleibt aus.
Bei solchen Rahmenbedingungen ist es fast schon ein kleines Wunder, dass sich in den letzten Jahren in Deutschland überhaupt so etwas wie eine kleine Beatmaker-Szene herausgebildet hat. Eins ihrer Zentren ist Köln. Hier lebt und arbeitet der DJ und Producer Twit One, der gerade sein neues Solo-Album herausgebracht hat. Wobei „solo“ vielleicht das falsche Wort ist. Zwar hat Twit One das Album selber produziert und bei den überwiegend instrumentalen Tracks bleibt die Anzahl der Gastauftritte im einstelligen Bereich, aber trotzdem ist „The Sit-In“ keine sonderlich alleingängerische Angelegenheit.
Denn wie jeder gute Produzent kommuniziert Twit One zuerst über seine Samples. Und da eröffnet sich auf diesem Album ein interessantes Kontinuum zwischen der Psychedelik der brasilianischen Tropicalia-Bewegung, etwas verlangsamten Rhythmen an der Schnitstelle von Soul und Disco, abgesampelter Busta-Rhymes-Wahnsinn und ganz besonders viele Klavier- und Fender-Rhodes-Passagen. Zwischendurch tauchen immer Feldaufnahmen von spielenden Kindern oder Straßenszenen auf, die sich mit den Gast-Vokalisten wie aus einem Guss in die Samplekulisse einfügen. „The Sit-In“ ist ein Album wie eine entspannte Teerunde mit Freunden: komplex, aber nicht überfordernd, angenehm, ohne dabei anbiedernd zu sein. Jetzt muss eigentlich nur noch der Rest der Republik davon hören.
P.S. Eine Information bin ich noch schuldig. Die besten Beats von Haftbefehl kommen übrigens von Ben Bazzazian. Der wohnt auch in Köln.
Twit One: „The Sit-In“ (Melting Pot Music)
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Grenzenlos episch
Live gespielte Game-Soundtracks werden zum Megaevent – Popkultur in NRW 11/18
Odyssee im Ruhrgebiet
Weltoffene Konzerte umsonst und draußen – Popkultur in NRW 07/18
Tiefenentspannt in Duisburg
Traumzeit-Festival mit Mogwai, Slowdive und The Great Faults – Popkultur in NRW 06/18
Global denken, lokal tanzen
NRW Kultursekretariate fördern musikalischen Reichtum – Popkultur in NRW 04/18
Absichtlich schön
Giant Rooks: aus Hamm in den Indie-Pop-Olymp – Popkultur in NRW 02/18
Das Geld liegt auf der Straße
Musikmesse create & connect will dem Nachwuchs zu Erfolg verhelfen – Popkultur in NRW 11/17
Girls in Airports
Zuhause im Zwischenland – Popkultur in NRW 10/17
Welches Obst bist du?
Süßes und Saures beim Juicy Beats Festival in Dortmund – Popkultur in NRW 07/17
Musikfestivals im Ruhrgebiet
Umsonst, draußen, für alle – Popkultur in NRW 06/17
Ein paar Takte Heimat
Tanz die 80er Jahre – Popkultur in NRW 05/17
Anatolischer Krautrock
Elektro Hafız auf dem Schwarzweissbunt-Festival – Popkultur in NRW 04/17
Dada für die Generation Y
Die Band Golf lädt an den „Playa Holz“ – Popkultur in NRW 03/17
Tolerante Szene
An diesem Abend gehen Kölner Jazzbühnen fremd – Improvisierte Musik in NRW 11/24
Nordisches Spitzenprodukt
Rymden am Theater Krefeld – Improvisierte Musik in NRW 10/24
Experimentell und innovativ
3. New Colours Festival in Gelsenkirchen – Improvisierte Musik in NRW 09/24
Immer eine Uraufführung
4. Cologne Jazzweek – Improvisierte Musik in NRW 08/24
Ein Abend für den Duke
Jason Moran und die hr-Bigband in Duisburg – Improvisierte Musik in NRW 07/24
Musikalische Eröffnung der EM
Bundesjazzorchester mit Tom Gaebel in Dortmund und Köln – Improvisierte Musik in NRW 06/24
Verschiedene Welten
Drei Trompeter besuchen das Ruhrgebiet – Improvisierte Musik in NRW 05/24
Besuch von der Insel
„Paul Heller invites Gary Husband“ im Stadtgarten – Improvisierte Musik in NRW 04/24
Pure Lust an der Musik
Das Thomas Quasthoff Quartett im Konzerthaus Dortmund – Improvisierte Musik in NRW 03/24
Kleinstes Orchester der Welt
„Solace“ in der Friedenskirche Ratingen – Improvisierte Musik in NRW 02/24
Mit zwei Krachern ins neue Jahr
Jesse Davis Quartet und European All Stars in Köln – Improvisierte Musik in NRW 01/24
Sturmhaube und Ballonmütze
Gregory Porter in Düsseldorf – Improvisierte Musik in NRW 12/23
Balladen für den Herbst
Caris Hermes Quintett in Düsseldorf – Improvisierte Musik in NRW 11/23