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Da geht noch was
Foto: quickshooting / Adobe Stock

Der Marktplatz der Religionen

30. August 2021

Vom Mit- und Durcheinander der Religionen – Glosse

Nicht einmal 8 Prozent der in Deutschland lebenden Menschen sind aktiv gläubig. Oder andersherum: „92 Prozent der Deutschen bleiben Gottesdiensten fern“, schrieb die Giordano-Bruno-Stiftung im August letzten Jahres in unterschwellig triumphierendem Ton und berief sich dabei auf eine Erhebung der Forschungsgruppe Weltanschauungen Deutschland, die zugegebenermaßen auch irgendwie ganz eng mit der Stiftung verquickt ist. Aber darum soll es uns hier nicht gehen. Nein, wir widersprechen dieser Erhebung ganz vehement! Warum? Weil wir in einer Zeit leben, in der Konsumgesellschaft, Neue Spießigkeit und Weltuntergangslaube zueinander finden wie Spinat und Basilikumsamen im grünen Smoothie.

Ja, es mag sein, dass 2019 insgesamt rund 542.000 Menschen aus den großen Landeskirchen ausgetreten sind. Und ja, vielleicht gehen nur 3,4 Prozent aller Evangelen zum Gottesdienst (was 0,8 Prozent der Bevölkerung ausmacht). Und ja, vielleicht sind selbst unter den Muslimen nur die Hälfte aktiv muslimisch. Aber das heißt nicht, dass Deutschland mehr und mehr in Aufklärung und Klugheit schreitet. Das anzunehmen, wäre wohl nicht weniger als töricht zu bezeichnen. Man sehe sich bloß um.

Es wimmelt von Kulten (Corona-Angst) und (Verschwörungs-)Mythen; die Debattenräume sind von Gesinnungsmauern verengt; das Gendersternchen hat das Christenkreuz als heiliges Symbol abgelöst. Natürlich sind es nicht nur arbeitslose Soziologie-Abgänger, die den Diskurs bestimmen. Menschen, die erfolgreiche Start-ups gründen, und diejenigen, die davon träumen, finden Meditation zen-sationell, finden ihren Ausgleich im Yoga und die drei Wochen im nepalesischen Kloster haben auch voll die benefits fürs business gebracht, man braucht halt auch ein anderes mindset, wenn man als scanner ein entrepeneurship hochziehen will.

Willkommen auf dem religiösen Marktplatz!

Den habe ich mir nicht ausgedacht, der existiert wirklich! Religionswissenschaftler von der Ruhr-Uni Bochum haben 2005–2007 allein in NRW rund 228 unterschiedliche religiöse Organisationen gezählt. Und dabei ist die „Bricolage aus verschiedenen religiösen Traditionen“ aus der Esoterik-Szene nicht einmal eingerechnet. Heute kann sich jeder seine Wunschreligion aus einzelnen Bauteilen selbst zusammenbasteln. Was beim Neuwagen oder dem Rollenspielcharakter geht, nennt sich in der Religion hochtrabend „Synkretismus“. Wir summen das Sutra „Om“ beim Yoga, bemalen Eier wie die Germanen, aber fasten vorher. Aus gesundheitlichen Gründen, versteht sich, man ist ja kein Christ.

Im Prinzip ist es aber das, was die christlichen Kirchen seit Jahrzehnten und Jahrhunderten tun, um Mitglieder zu gewinnen und zu binden: beliebtes Altes neu und konform etikettieren, unbeliebtes Neues abwerfen. Das Bedürfnis nach einer Muttergottheit wird mit einer Idee namens „Maria Muttergottes“ gestillt, Gebote wie „Es soll kein Kleid auf deinen Leib kommen, das von zweierlei Garn gewoben ist“ (3. Mose 19,19) werden stillschweigend ignoriert.

Dann wollen wir uns doch mal umsehen auf diesem Marktplatz der Religionen, und uns die Religion mit dem meisten Swag zusammenbauen! (Ja, „Swag“ sagt keiner mehr, aber Religionen hinken nunmal doch immer ein paar Jahre hinterher.)

Wir suchen also nach den coolsten Eigenschaften der Religionen auf der ganzen Welt. Denn wer möglichst vielen Göttern huldigt, erhöht am Ende seine Gewinnchancen. Es ist wie bei der Balz im Club.

Unsterblichkeit:

Die Rael-Bewegung, 1973 vom Franzosen Claude Vorilhon gegründet, hat das Klonen von Menschen zum Ziel. Dabei zeigten sie sich visionär: Die Klone sollten nach einem Upload des Menschen in einen außerirdischen Zentralrechner entstehen. Was in den Siebzigern noch Science-Fiction war, nennt sich heute Transhumanismus und ist eine milliardenschwere Bewegung im Silicon Valley. Plus: Das Symbol der Raelisten ist eine Swastika im Davidstern. Kann man mehr für die Versöhnung des Unversöhnlichen stehen?

Apropos Science-Fiction – Religion mit Laserkanonen:

Gemäß der Lehren der Scientology-Kirche sind „böse Geister“ für menschliches Leid verantwortlich. So weit, so langweilig? Denkste! Das hat nämlich nichts mit Kobolden und ähnlich ausgelutschtem Feenfirlefanz zu tun! Vielmehr handelt es sich dabei um die Seelen von Bewohnern der Galaktischen Konföderation. Deren böser Diktator Xenu hat nämlich Milliarden von ihnen vor 75 Milliarden Jahren auf die Erde gebracht, um sie hier mit Wasserstoffbomben zu vernichten. Auf Vulkanen wohlgemerkt, denn doppelt hält besser! Man kann Scientology ja einiges vorwerfen, aber was Coolness angeht, können andere Religionen sich einen dicken Batzen von dieser Denomination abschneiden!

Für Freunde exotischer Tiere:

Sie würden so gerne ein Terrarium mit Giftschlangen halten, aber Mama/Partner/Vermieter lässt es nicht zu? Was aber, wenn diese Reptilien absolut notwendig sind, um Ihr Vertrauen in Gott zu beweisen? Zu den Gottesdiensten der Full Gospel Tabernacle Church in Kentucky gehört es, eine giftige Viper oder Klapperschlange in den Händen zu halten. Gott wird seine Schäfchen schon schützen, wenn sie aufrecht im Glauben sind. Gewissensbisse bekommen hier eine ganz neue Bedeutung. Bei wem die Schlange zuschnappt, der hat’s wohl verdient. So wie der Sohn des Pastors, Jamie Coots. Den Notarzt hat die Familie weggeschickt. Gott wird (es) richten. Anscheinend war Jamies Glaube nicht stark genug.

Kommunismus mit gutem Gewissen:

Kennen Sie das? Sie wären gern bekennender Kommunist, aber die Gräueltaten Lenins und Maos sind dann doch eher unschöne Flecken auf ihrer moralischen Weste? Dann lesen Sie die Worte von Ryuho Okawa, dem Gründer der Religion Kofugu no kagaku (oder international: Happy Science): „Obwohl Lenins Ideologie, als er die Revolution der Bolschewiken anführte, missverstanden wurde, war er doch angetrieben von dem starken Bedürfnis, den Menschen in Russland zu helfen, und lebt daher heute in einem Dorf für Politiker im Reich des Guten in der fünften Dimension. Stalin andererseits wurde verbannt in die tiefste Hölle, bis die Opfer der Säuberungen, die er durchgeführt hat, ihm vergeben. Die guten Taten und Ideen von Mao Zedong überwiegen leicht die bösen, weshalb er ebenfalls ein Bewohner des Reiches des Guten in der fünften Dimension ist.“ Und Ryuho Okawa muss es ja wissen, ist er nicht bloß durch die Dimensionen gereist und hat mit den Schutzgeistern von Angela Merkel und Wladimir Putin gesprochen, sondern ist selbst die Reinkarnation von Siddharta Gautama, des unterschätzen Gottes Hermes und eines Inka!

Gegen Ausbeutung und Militarisierung:

Zugegeben, Georgien ist ein Staat, dessen Militärdienst man nachvollziehen kann, sind doch rund 20 Prozent des Landes von Russland besetzt. Andererseits bekommen die wehrdienstleistenden jungen Männer den Wahnsinnssold von 75 Lari (19 Euro) im Monat, werden für schwere Arbeiten am Bau oder langweilige Arbeiten im Objektschutz abgestellt und sehen ihre Militärpflicht daher eher als Sklavendienst für den Staat. Zum Glück müssen Priester nicht an der Waffe dienen. Also gründeten zwei junge Männer aus der Hauptstadt Tbilisi 2017 die Georgisch-Christlich-Evangelikale- Protestantisch Biblische Freiheitskirche, die Berichten zufolge mittlerweile weit mehr als 5.000 Mitglieder hat, fast alles junge Männer unter 27 Jahren – und allesamt Priester. Cleverer Schachzug. Jetzt müssen wir die Idee nur noch in Deutschland sinnvoll anwenden.

Emanzipation und Unabhängigkeit:

Das chinesische Volk der Mosuo ist eines der wenigen Matriarchate auf der Welt. Hier haben die Frauen das Sagen, Männer sind Arbeitskräfte auf den Feldern und den Haushalten. Doch damit nicht genug: Damit die Eheleute einander nicht lästig werden, führen sie eine sogenannte Besuchsehe: Die Partner leben nicht zusammen, sondern unabhängig, und nur nachts darf der Mann die Frau besuchen. Morgens geht er zurück zu seiner Familie. Die Frau darf sogar mehrere Liebhaber haben. Das lässt sich bei uns doch auch prima einrichten, schließlich geht der Trend doch zu unabhängigeren Partnerschaften.


Religonäre - Aktiv im Thema

house-of-one.org | Das interreligiöse Berliner Bauprojekt vereint eine Synagoge, eine Moschee und eine Kirche und wendet sich als Ort des Dialogs ausdrücklich auch an nichtreligiöse Menschen.
heimatkunde.boell.de/de/2020/12/17/interreligioeser-dialog-erfolgsentwicklung-oder-uebergangsphaenomen | Kritische Diskussion des interreligiösen Dialogs im migrationspolitischen Portal der Heinrich Böll Stiftung.
www.ibka.org | Der Internationale Bund der Konfessionslosen und Atheisten hat sich der Durchsetzung der allgemeinen Menschenrechte verpflichtet und betont die Freiheit, sich zu religiösen oder nichtreligiösen Weltanschauungen zu bekennen oder nicht zu bekennen.

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Schreiben Sie uns unter meinung@choices.de.

Marek Firlej

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